Mittwoch
29
November
Vortrag, 18:00 Uhr
Anna Haag im Blick eines Ausländers
Humanistisches Zentrum in Stuttgart
Anna Haag im Blick eines Ausländers
Ich belaste meine Bekannten eigentlich nie mit der Aufforderung „Dieses Buch sollst du lesen!“, aber Anna Haag bildet hier die große Ausnahme. Ihr Kriegstagebuch erschien Anfang diesen Jahres auf Niederländisch unter dem Titel Vreemdeling in eigen land (Fremde in eigenem Land). Die Rezensionen waren so positiv, dass ich, der z.B. alle Tagebücher von Viktor Klemperer gelesen habe, sofort die deutsche Original-Ausgabe, die erst 2021 veröffentlicht wurde, bestellte.Welche Überraschung! In jeder Hinsicht übertrifft Haag Klemperer: in der Wahrnehmung der Haltung ihrer Mitbürger, in der Analyse ihrer Gedankenlosigkeit (treffend heißt der deutsche Titel deshalb: Denken ist heute überhaupt nicht mehr Mode.), in der Erwartung und Akzeptanz des Bombenterrors als verdienter Lohn für Warschau, Rotterdam, London und Coventry, im Nachdenken über den moralischen Wiederaufbau eines befreiten Deutschlands und der Rolle der Frauen darin (auch ihre eigene). Und das alles in einer Sprachqualität (hier spreche ich als Philologe), die manches Tagebuch zu wünschen übrig lässt.
Vor allem gibt Anna Haag eine ermutigende Antwort auf die Frage, die mich und viele andere beklemmt: kann man sich selber treu bleiben in einer totalitären Gesellschaft? Sie beweist, dass es möglich ist – so wie auch russische Freunde von mir in Putins Russland das Denken nicht verlernt haben.